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Milieugeschädigt?

Es stand in der Zeitung: Die Polizei ermittelte im „Homosexuellen-Milieu“. Was, liebe Redaktion, ist das denn? Gibt es das überhaupt? Und wenn ja, gibt es dann auch ein „Heterosexuellen-Milieu?“ Nein? Weil man nicht brave Bürger, Prostituierte und Zuhälter in einen Topf werfen darf? Aber Schwule, Lesben und Stricher – gehören die etwa zusammen?

Was eigentlich ist ein „Milieu“? Für Heinrich Zille, der vor gut hundert Jahren mit Stift und Pinsel die bittere Berliner Hinterhofromantik verewigt hat, war das ganz klar: sein „Milljöh“ war die armselige Welt der kleinen Leute mit spielenden Kindern auf dem Müllkasten, halbblindem Leierkastenmann, schmuddeligen Kneipen und drallen Mädels, die anschaffen gingen.

Keine Probleme mit dem Milieubegriff haben auch die Chemiker: alle physikalisch-chemischen Umgebungsfaktoren, die Einfluss auf die Lösung eines Schadstoffs haben könnten, bilden das „geochemische Milieu“. Und die Soziologen verstehen unter „Milieu“ alle Bedingungen, unter denen jemand aufwächst und lebt.

Wir Journalisten aber tun uns mit diesem Begriff so schwer. Sind wir etwa durch Erziehung und Vorurteile milieugeschädigt? Warum schreiben wir nicht korrekt „Strichermilieu“, wenn die Polizei dort ermittelt, warum, falls es so ist, nicht vom „Bekanntenkreis des Opfers“ oder einfach „unter Homosexuellen“? Unsere Sprache bietet uns ja so viele Begriffe an, etwa „Szene“, „Family“, „Umfeld“. Einer trifft bestimmt zu. Den richtigen Begriff herauszufinden und der verehrten Leserschaft zu erläutern, ist das etwa von Journalisten zu viel verlangt?

Jürgen Friedenberg, Journalist (18.01.2005)