Der Gewinner-Beitrag

Goldrausch in Gelsenkirchen

Neuer Kampf ums alte Eisen. Wenn Chinas Wirtschaft dafür sorgt, dass die Stahlpreise klettern, wird es hektisch bei den Schrottsammlern im Ruhrpott.
Von Lorenz Wagner

Komm nur her, du Lump! "Ich seh' genau, was der will", sagt Engelchen. Schrott vom Pritschenwagen klauen. Darauf liegt Edles: alte Rohre. Engelchen greift sich eines. Tritt dem Dieb entgegen. "Wag dich", droht Engelchen. - "Geh nach Hause Kartoffeln kochen!", zischt er. Das Rohr kracht auf die Holzpritsche. Sternchen eilt herbei, breite Schultern, am Gürtel vier Halfter, darin Zange, Messer, zwei Handys. Der Kerl flitzt.

"Die klauen zurzeit wie die Raben", schimpft Engelchen. Eigentlich heißt sie Sabine, und Sternchen heißt Ute. Die Kosenamen haben sie sich selbst gegeben. "Altmetallentsorgung Stimmer" steht auf ihrem Wagen. Die Frauen sind Schrottis, Klüngelskerle, holen Schrott ab oder fahren mit einer Elektro-Pfeife durch die Straßen, sammeln Schrauben, Bottiche, Spülmaschinen in ihren Kleinlaster.

Das Geschäft ist hart geworden. China ist schuld. Das Land boomt, baut, bosselt, braucht dafür Kupfer, Eisen, Stahl. Und Schrott. Die Hälfte des Stahls wird aus Schrott gekocht. Die Chinesen raffen den Weltmarkt leer, nun ist Schrott knapp. Und das versaut Engelchen und Sternchen die Laune. Sicher, seit Juli hat sich der Preis verdoppelt. Aber jetzt ist der ganze Ruhrpott im Goldrausch. Trödler, Diebe, Schwarzpfeifer - "die sammeln wie die Doofen, an Sperrmülltagen fahren sie wie die Gesengten, prügeln sich fast". Vorbei ist die Zeit der vollen Container und zu entdeckenden Keller. "Du gehst zwei Stunden pfeifen und hast am Ende nur ein Fahrrad drauf. Früher sind wir fünfmal am Tag zum Schrottplatz gefahren, heute vielleicht zweimal - wenn's gut läuft."

Vor dem Schrottplatz in Bottrop harren Laster und Kombis in langer Reihe. Staub, Diesel, Gehupe. Sternchen raucht Akkord, fetzt am Lenkradschaumstoff rum. 37 Jahre ist sie alt, trägt Sonnenbrille und Schirmmütze. Der Laster fährt auf die Waage. 2440 Kilo. Sternchen steigt aus. Die Nadel fällt um 120 Kilo. "Engelchen kocht so gut", sagt Sternchen. Und Engelchen wiegt noch ein wenig mehr. 36 Jahre ist sie alt, an den Armen Flecken, Narben. "Wer mich nicht kennt, glaubt, ich schnippel an mir rum." Ruhrpottslang. Die Stimme ist wie ein Megafon.

Endlich rasselt der Bagger heran. Seine Kralle greift auf den Pritschenwagen, hackt in zwei Serverschränke hinein, reißt sie hoch und rammt sie in einen Schrotthaufen, dass die Funken schlagen. Wannen, Stühle, Dosen stöhnen, kreischen und schrillen; Sternchen zuckt, als die Klaue über sie hinwegschwebt. Wie King Kong seine Schöne könnten die Eisenfinger sie packen. "Schissbux, Schissbux", ruft Engelchen. Lacht. Hustet. Alles ist Staub.

Wagen geleert. Was haben sie wohl verdient? "Das weiß man vorher nie", sagt Engelchen. "Du kriegst am Montagmorgen auch mal 15 Euro die Tonne weniger als am Freitagmittag." So viel spielt da rein, die Stahlkonjunktur, der Kokspreis, das Wetter, Chinas Appetit und Verdauung; mal schwingt's auf, mal stürzt's nieder, und Stimmers kleinen Schrotthandel, den reißt es immer mit.

Was nutzen einem da Ruhe und Verstand? Börsenorakel müssen her. "Es gibt nix Schlimmeres als ein sinkender Dax", analysiert Engelchen. "Da guck ich immer drauf, gleich am Morgen. Denn steigt der Dax, steigt der Mischschrott." Und dann ist da die Frage: Was macht ThyssenKrupp? "Die sind für uns ausschlaggebend. Sinkt ThyssenKrupp, sinken auch die Metalle." Dann muss man fix sein. "Einmal hab ich Ute angerufen. Bring sofort die Metalle weg, und während sie abrechnet, kommt ein Fax: Preis gefallen von 300 auf 150 Euro die Tonne."

Heute surrt kein solches Fax rein. Der Verdienst ist auch so mies genug. 60,62 Euro für eine halbe Tonne Mischschrott, also Blech, Guss und Eisen. Dazu kommen 27 Euro für eine Wanne Edelmetallspäne, 32 Cent das Kilo. Wutblicke. "Dafür krauchen wir drei Stunden rum. Zwei Mann, das Auto, das Benzin, da bleibt nichts über", jammert Engelchen. Sternchen schweigt. Verflixte Schwarzsammler! Vor ihnen saugt einer seinen roten BMW aus.

Nur weg hier! Zu viel Reichtum um sie herum. Sternchen zeigt auf einen Container. Wasserleitungen, meergrün, grünspangrün, Kupfer, 800 Euro die Tonne. Welche Pracht! Und da! 50 Tonnen Kernschrott, schweres Eisen, rotbraunes Ruhrpottgedärm, aufgetürmt auf drei Meter. "Das ist ein Goldschatz!"

Traurig tuckert "Mörsi", ihr Mercedes-Laster, los. Seit drei Jahren dieseln die beiden Schrottis durch ihr Revier. Marl, Bottrop, Gladbeck, Gelsenkirchen, wo ihr Häuschen steht. Dort entschieden sie sich für das Schrottleben. Engelchens Gehalt als Taxi-Funkerin reichte nicht, ein zweiter Job musste her. "Was kannste am besten?" - "Auto fahren", antwortete Sternchen. Sie ist früher mal Laster gefahren. "Und wovon haste Ahnung?" - "Schrott!" Sie hat auch für einen Altmetallentsorger gearbeitet.

Ein Frauendoppel! - die Kollegen lächeln. Da hilft nur eine Wette gegen den Oberlästerer, einer mit Kran auf dem Laster. Zwei Waschmaschinen, er gegen sie. Um 100 DM. "Wir hatten sie drauf, da war der immer noch am Heben." Auch die Kunden müssen lernen. "Kommt so ein Kerl, sagt: ,Lassen Sie lieber Ihren Mann kommen!'", erzählt Sternchen. Mit vier Mann hätten sie den Wandtresor in den Garten vorgeschleppt. "Da bin ich hin und hab' gesagt: ‚Stimmt Engelchen, den müssen wir zu zweit nehmen. Der ist ein bisschen schwer.'"

Heute gewinnen sie gerade als Exoten Kunden. "In einer Siedlung fahren am Tag sechs Schrottis durch", sagt Engelchen. "Aber die Kunden sind uns treu. Ein Opa sagt immer: ‚Meinen Schrott kriegen nur Mädels.' Und seine Frau schüttelt den Kopf und fragt uns: ‚Nehmt ihr auch alte Säcke mit?'"

Berühmt sind sie. Das Fernsehen war schon da. "Ich hab's gesehen, nun kriegen die unseren Schrott", sagt der Chef einer Computerfirma. Serverschränke müssen weg, 150 Kilo schwer. Engelchen macht den Papierkram. "Ich bin der Finanzminister!" Sternchen ist der Malocher, ihre Arme stehen weit zur Seite weg, die Arbeitshandschuhe trägt sie wie Colts. Oft zerprügelt sie mit einem Vorschlaghammer Gusswannen. Und Engelchen guckt ihr "schön auf den Po". Vor zwei Jahren haben sie geheiratet, die erste Lesben-Hochzeit in Gladbeck. "Ute ist meine zwei Frauen, die erste und die letzte", sagt Engelchen. 13 Jahre lebte sie mit einem Mann. Mutter, krank am Herzen, sollte nichts erfahren, "ich hatte Angst, sie fällt tot um". Schließlich doch die Annonce: "SIE, XXL-Typ, nicht für den Haushalt geeignet, sucht weibliches Gegenstück: bin einfach knuffig." Sternchen ruft an. Zögerlich. Sie verdaut gerade eine zerronnene Liebe. Freitag Telefonat, Samstag Treffen. "Sie ist nicht mehr gegangen", sagt Engelchen, das Megafon herabgeregelt. "Sie hat so süße Ohren, und die Augen!"

"Also Engelchen, du warst am Anfang nicht mein Typ", sagt Sternchen. Aber eines gefiel ihr: "Ich steh' auf Frauen mit großen Brüsten." Gelächter. Handyschrillen. Alte Geländer. Gelsenkirchen. Nichts wie hin. "Sonst ist wieder alles weg, und du bist verkackt. Die Leute rufen uns, und wenn wir kommen, heißt es: ,Da lag doch eben noch ein Durchlauferhitzer!'"

Bewachen müssen sie den Schrott in diesen kargen, chinesischen Zeiten. "Wenn der Wagen voll ist, fährt Ute alleine weg, und ich warte neben dem Rest auf dem Gehweg." Zum Glück passen Stammkunden wie Günther für sie auf. "Eine Hand wäscht die andere", sagt Engelchen. "Oder wie wir hier sagen: Du krabbelst mein' Arsch, ich krabbel dein' Arsch", präzisiert Sternchen.

Zwei Konkurrenten hat Günther schon verjagt. Die Beute verlockt: Geländer und gusseiserne Abflüsse; fauler Schlamm bröckelt raus, "wie gut, dass ich nichts rieche", witzelt Engelchen. Ihr Gesicht ist Freude. Ist guter Schrott, keine Blech, keine läppisch leichten Waschmaschinen, die sie so oft ergattern: "Das bringt nix." Nein, lieber Kernschrott, schweres Eisen.

Oder Edelmetall, Messing, Kupfer, Zink, Aluminium oder das blauschwarze VA, das Hummeln und Bienen anlockt. "Süßes Zeug", sagt Sternchen. "Riecht wie Vanille, du kriegst Lust auf einen Milchshake oder ein Eis." Vertraut sei der Geruch, "so angenehm". Sternchen riecht ähnlich, nämlich wie eine Puddingschnecke. Engelchen duftet nach Sauerteigbrötchen, wie gutes, feuchtes, rostiges Eisen. Zusammen riechen sie nach Schrott. "Wir gehen in unsere Lieblingskneipe, und die Wirtin kommt aus der Küche, sagt: ‚Ich habe euch gerochen.' Ist ja eigentlich kein Kompliment." Stille.

Kurze Stille. Die beiden schmeißen die Pfeife an. "99 Luftballons", auf Flöten gefiept. Kinder radeln herbei, greifen sich Lutscher. So mancher Opa darf seinen Schrott nur Stimmers geben, Befehl von erdbeersahnebonbonsüchtigen Enkeln. Eine Oma trägt einen Haken heran, bleich, als wäre sie zu Olaf Thons Glanzzeiten das letzte Mal draußen gewesen, "viele Kunden sind einsam, wollen einfach mal zwei Minuten über ihr Tier reden".

Der Laster flötet weiter nach Geld. "Hey Baby - I wanna be your girl" und "Das Wandern ist des Müllers Lust". Eine runde Frau winkt, sie hat Sternchen mal eine Hose geliehen. "Ich flexe und flexe und denke: Also irgendwas riecht hier. Da hat die Hose gebrannt." Plausch. Sternchen tritt nebenbei das Plastik aus einem alten Vordach, "dafür sind Stahlkappen echt gut", dem Familienhund fällt vor Schreck der Tennisball aus der Schnauze. Er kriegt dafür eine Hunde-Bifi, "damit bestechen wir Wachhunde, dass sie uns auf den Hof lassen".

Abendsonne. Sternchen will nach Hause. Trompete üben. "Wenn sie spielt, krieg' ich Gänsehaut", sagt Engelchen. Ist viel schöner als die Pfeife auf dem Dach. "Country Home, West Virginia" tönt es da - ein Panflötenmassaker. "Och, Wir hör'n das gar nicht mehr", sagt Sternchen. Dafür hören sie den Eismann. Zwei Tüten, randschleckevoll. Riecht nach frischen VA-Spänen.

Mit freundlicher Genehmigung des Autors aus der Financial Times Deutschland vom 28.05.2004

Abruf des Beitrags über das Online-Portal der FTD


Felix-Rexhausen-Preis
BLSJ e.V.